Schwarzshirt geht weiter, schaut sich nach Strohhut um, kann sie aber nirgends entdecken. Die Luft ist von dumpfen Musikrhythmen erfüllt, aus allen Ecken des Vergnügungsparks, von weit und nah. Vier an Bügeln sich festkrallende Burschen und Mädchen drehen sich hoch in der Luft in einer Riesenschaukel und schreien dabei, was die Stimmbänder hergeben. "Schau dir den an, der speibt gleich", sagt eine Frau und Schwarzshirt geht wie sie ein Stück weiter, um im Falle des Falles nicht vom Erbrochenen getroffen zu werden.
Gleich gegenüber steht bewegungslos ein großer, mechanischer Gorilla hinter einem hohen Gitter. Ein Kind schaut zu ihm hoch und verliert vor lauter Schauen beinahe das Gleichgewicht. Ein Totenschädel hebt und senkt einen roten und einen grünen Teufel. Aus der Geisterbahn dringen dumpfe Schreie, Glas bricht, ein Ungeheuer lacht, eine Frau in einem Wagen verschwindet durch eine Schwingtür, die mit Spinnweben aus Watte beklebt ist.
Gellende Schreie segeln durch die Luft. Ein paar Burschen kehren aufgeregt von der Hochschaubahnfahrt zurück zu einem, der draußen auf sie gewartet hat. Sie reden durcheinander und ziehen unternehmungslustig weiter, vorbei an einem Kind, das ihnen mit großen, ernsten Augen hinterhersieht.
Da liegt Strohhut auf einer Bank, die Sonnenbrille auf der Nase, im Schatten eines großen Baumes.
"Schau mal! Dort drüben reiten Kinder auf Pferden. Komm, das sehen wir uns aus der Nähe an." Schwarzshirt zieht Strohhut hoch, die sich wehrt, aber schließlich doch nachgibt und sich ihrer Freundin um den Hals hängt, um sich das Gehen zu erleichtern. "Verflucht, sind meine Beine müde, ich kann kaum mehr gehen, ich muss ins Wasser, sofort, ich muss ins Wasser." Schwarzshirt lacht über Strohhuts Späße, packt sie fester an und schleift sie neben sich her. "Du schaffst es, du schaffst es, gleich sind wir da."
Unter einem mit Zeltplanen bespannten Unterstand stehen Kinder und warten darauf, an die Reihe zu kommen. Mehrere kleinere und größere Pferde sind mit Leinen an einem Gatter festgemacht und knabbern an allem, was sie mit dem Maul nur erreichen können.
Ein Bub klettert auf eine Bank, um mit den Pferden auf Augenhöhe zu sein. "Du kannst das Pferd streicheln", sagt einer der Burschen, die die Kinder auf die Pferde heben und am Sattel festmachen, "aber Vorsicht, halte ihnen nur die flache Hand hin." Der Bub streckt seine Hand aus, hält sie dem Pferd hin und zieht sie rasch zurück, als das Pferd mit seinen Nüstern schnaubend näherkommt. Der Bub probiert es gleich noch einmal. Diesmal gelingt es ihm, den Nasenrücken des Pferdes zu kraulen und ein breites Grinsen strahlt auf seinem Gesicht.
Vom Parcours kehrt ein kleines Mädchen zurück, das sehr ernst dreinschaut, und auf die Frage seiner Mutter, ob es ihm gefallen habe, mit einem langsamen, entschiedenen Nicken antwortet. Die beiden Pferdeburschen scherzen miteinander, während sie das nächste Kind für die Runde bereitmachen. Im Ticketbüro, hinter einer Glasscheibe, zählt der Chef Geldscheine.
Schwarzshirt, die das Geschehen auf der Reitbahn aufmerksam verfolgt, spürt, dass Strohhut ihren Kopf auf ihrer Schulter ablegt und sie geschmeidig umarmt. Ein wenig später spürt sie, dass Strohhut zittert und den Kopf an ihre Schulter drückt, als würde sie weinen.
Die beiden Frauen spazieren Hand in Hand durch den Prater, folgen dem Routenplaner zum Praterstern und werden nach wenigen Minuten U-Bahn-Fahrt auf der Donauinsel von der Sonne empfangen. Durch ein Fenster auf dem Bahnsteig sehen sie hinunter auf ein langes glitzerndes Wasserband, das in der Ferne in Dunst und Grün verschwimmt. Zur Rechten entdecken sie weitläufige Holzterrassen, auf denen Menschen den Sommerabend genießen, plaudern, spielen und entspannen. Auf dem Wasser sind Boote unterwegs, an den Ufern suchen Schwäne nach Futter.
"Du bist …", beginnt Schwarzshirt, schmunzelt und verschließt ihren Mund mit einem unsichtbaren Schlüssel.
"Für dich bin ich heute sogar das Riesenrad, eine, wie hast du gesagt, sehr stille Attraktion." Strohhut spricht durch den Ausguck der U-Bahn hinaus in die Sonne. "Ich bin eine Attraktion, das stimmt, aber nur selten still, oder nicht? Dafür rotiere ich gerne, bin immer auf Achse, das passt haargenau. Aber das sind alles nur Worte und Momente und die Worte verfliegen und die Momente verfliegen und was bleibt ist etwas Anderes. Was bleibt, ist die Erinnerung, die Stille. Irgendwie abartig, aber es ist nun mal so. Insofern nehme ich dein Kompliment gerne an." Strohhut schaut Schwarzshirt an und lächelt. "Was sagst du jetzt? Überrascht?"
Historische Infos im Wien Geschichte Wiki:
Zeichnung: Sandra Biskup
Text: Simon Kovacic