Zeichnung: Attraktionen und belebtes Treiben im Wiener Wurstelprater

Eine sehr stille Attraktion

15.9.2020

Ein Frauenpärchen steht Arm in Arm unter dem Riesenrad und wartet, bis die weltberühmte Eisenkonstruktion sich zu drehen beginnt.
 
"Eine sehr stille Attraktion", sagt eine der beiden Frauen. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt, eine knallrote Hose und hat blondes Haar. "So wie du", sagt sie nach einer kurzen Pause zu ihrer Freundin, die eine Sonnenbrille und einen Strohhut trägt, und greift nach ihrer Hand.
 
Die Freundin schüttelt sich. "Ich kann es nicht leiden, wenn du sagst, dass ich so oder so bin. Du machst das in einer Tour, seit wir aus Berlin losgefahren sind", sagt sie und drückt sie von sich weg.
"Das ist nicht wahr", sagt Schwarzshirt, erstaunt über den Ärger, den sie mit ihrer liebevoll gemeinten Bemerkung ausgelöst hat. Strohhut wendet sich ab und steuert auf das Innere des Praters zu. "Jetzt zeige ich dir mal etwas, das so ist wie du!"
"Gerne", sagt Schwarzshirt und folgt ihr, "warte auf mich, lauf nicht so schnell!"
 
Strohhut bleibt stehen und streckt den Zeigefinger aus. "Hier: die Hochschaubahn."
"Und?" Schwarzshirt nimmt die Hand von Strohhut und schaut sie erwartungsvoll an.
"Hättest du gerne", sagt Strohhut, reißt sich los und läuft, ihren Hut festhaltend, davon.
"Das ist fies!", ruft Schwarzshirt. Strohhut bleibt nicht stehen, dreht sich nicht um, wird klein und kleiner und verschwindet schließlich aus dem Blickfeld.
 

Ein paar Schritte allein

"Ich sage ihr etwas Nettes und sie spinnt herum. Ich hab da jetzt keinen Bock drauf."
 
Schwarzshirt lehnt sich auf das Geländer, das die Wasserhochschaubahn umgibt, und schaut vor sich hin. Eine Kette zieht Kunststoff-Baumstämme, die als Boote dienen, steil aufwärts und rattert dabei sehr laut. Ein Mann mit einem Hund schießt eine steile Rinne herunter, hohe Fontänen spritzen über den Rand. An seinen Schultern hievt sich ein alter Mann hoch und genießt den Wasserstaub, der auf sein Gesicht fällt. Schwarzshirt kann ihn richtig spüren. "Bleib sitzen, Papa, bleib sitzen", sagt der Mann. Der alte Mann hört nicht auf ihn, der Hund bellt, der Sohn weist den Hund zurecht.
 

Schwarzshirt geht weiter, schaut sich nach Strohhut um, kann sie aber nirgends entdecken. Die Luft ist von dumpfen Musikrhythmen erfüllt, aus allen Ecken des Vergnügungsparks, von weit und nah. Vier an Bügeln sich festkrallende Burschen und Mädchen drehen sich hoch in der Luft in einer Riesenschaukel und schreien dabei, was die Stimmbänder hergeben. "Schau dir den an, der speibt gleich", sagt eine Frau und Schwarzshirt geht wie sie ein Stück weiter, um im Falle des Falles nicht vom Erbrochenen getroffen zu werden.

Gorilla, Teufel, Rollstuhl, Kind

Gleich gegenüber steht bewegungslos ein großer, mechanischer Gorilla hinter einem hohen Gitter. Ein Kind schaut zu ihm hoch und verliert vor lauter Schauen beinahe das Gleichgewicht. Ein Totenschädel hebt und senkt einen roten und einen grünen Teufel. Aus der Geisterbahn dringen dumpfe Schreie, Glas bricht, ein Ungeheuer lacht, eine Frau in einem Wagen verschwindet durch eine Schwingtür, die mit Spinnweben aus Watte beklebt ist.

Der Ticketverkäufer des Autodroms ein paar Schritte weiter isst mit der einen Hand einen dicken Kebab und lenkt mit der anderen Hand einen leeren Wagen an den Rand der Fahrfläche. Ein echter Virtuose. Ein junger Mann mit einer Behinderung hält das Lenkrad immer in derselben Position, fährt immer dieselbe Runde im Kreis und zeigt dabei keine Regung, am ehesten vielleicht Anspannung. Der Mann, der neben ihm sitzt, greift ins Lenkrad, als er befürchtet, sie würden gegen den Rand fahren. Wie es wohl wäre, im Rollstuhl durch den Prater zu fahren? Schwarzshirt stellt sich das zuerst ziemlich traurig vor, doch dann fällt ihr ein, dass sie aus dem Rollstuhl herausgehoben und in die Hochschaubahn hineingesetzt werden könnte.
 
Ist das dort Strohhut, die einen Bogen spannt und schießt?
 

Gellende Schreie segeln durch die Luft. Ein paar Burschen kehren aufgeregt von der Hochschaubahnfahrt zurück zu einem, der draußen auf sie gewartet hat. Sie reden durcheinander und ziehen unternehmungslustig weiter, vorbei an einem Kind, das ihnen mit großen, ernsten Augen hinterhersieht.

Wiedersehen

Da liegt Strohhut auf einer Bank, die Sonnenbrille auf der Nase, im Schatten eines großen Baumes.

"Hallo, schöne Frau." Schwarzshirt lässt sich neben Strohhut auf die Bank fallen. "Ach, war das schön. So viel Bewegung, so viele fröhliche, aufgeregte Menschen und so viele Kinder. Ich kann mich gar nicht sattsehen."
Strohhut reibt sich die Augen unter der Sonnenbrille und gähnt. "Ich bin irgendwie müde geworden. Fahren wir hinüber zur Donau? Die kann nicht weit sein. Heute ist so ein schöner Tag, wir könnten noch baden gehen."
 

"Schau mal! Dort drüben reiten Kinder auf Pferden. Komm, das sehen wir uns aus der Nähe an." Schwarzshirt zieht Strohhut hoch, die sich wehrt, aber schließlich doch nachgibt und sich ihrer Freundin um den Hals hängt, um sich das Gehen zu erleichtern. "Verflucht, sind meine Beine müde, ich kann kaum mehr gehen, ich muss ins Wasser, sofort, ich muss ins Wasser." Schwarzshirt lacht über Strohhuts Späße, packt sie fester an und schleift sie neben sich her. "Du schaffst es, du schaffst es, gleich sind wir da."

Kinder auf der Reitbahn

Unter einem mit Zeltplanen bespannten Unterstand stehen Kinder und warten darauf, an die Reihe zu kommen. Mehrere kleinere und größere Pferde sind mit Leinen an einem Gatter festgemacht und knabbern an allem, was sie mit dem Maul nur erreichen können.

Ein Bub klettert auf eine Bank, um mit den Pferden auf Augenhöhe zu sein. "Du kannst das Pferd streicheln", sagt einer der Burschen, die die Kinder auf die Pferde heben und am Sattel festmachen, "aber Vorsicht, halte ihnen nur die flache Hand hin." Der Bub streckt seine Hand aus, hält sie dem Pferd hin und zieht sie rasch zurück, als das Pferd mit seinen Nüstern schnaubend näherkommt. Der Bub probiert es gleich noch einmal. Diesmal gelingt es ihm, den Nasenrücken des Pferdes zu kraulen und ein breites Grinsen strahlt auf seinem Gesicht.

Vom Parcours kehrt ein kleines Mädchen zurück, das sehr ernst dreinschaut, und auf die Frage seiner Mutter, ob es ihm gefallen habe, mit einem langsamen, entschiedenen Nicken antwortet. Die beiden Pferdeburschen scherzen miteinander, während sie das nächste Kind für die Runde bereitmachen. Im Ticketbüro, hinter einer Glasscheibe, zählt der Chef Geldscheine.

Schwarzshirt, die das Geschehen auf der Reitbahn aufmerksam verfolgt, spürt, dass Strohhut ihren Kopf auf ihrer Schulter ablegt und sie geschmeidig umarmt. Ein wenig später spürt sie, dass Strohhut zittert und den Kopf an ihre Schulter drückt, als würde sie weinen.

"Was ist denn?", fragt Schwarzshirt und streichelt Strohhut über den Rücken, "was hast du?"
"Diese Kinder", flüstert Strohhut, "diese Kinder wirken so glücklich. Und … ich bin froh, dich zu haben … und dass du da bist und ich mit dir da bin." Schwarzshirt streichelt langsam über den Rücken von Strohhut und beobachtet, wie ein Bub stolz von seinem Ausritt zurückkehrt. "Das freut mich", flüstert Schwarzshirt.
 

Der unsichtbare Schlüssel

Die beiden Frauen spazieren Hand in Hand durch den Prater, folgen dem Routenplaner zum Praterstern und werden nach wenigen Minuten U-Bahn-Fahrt auf der Donauinsel von der Sonne empfangen. Durch ein Fenster auf dem Bahnsteig sehen sie hinunter auf ein langes glitzerndes Wasserband, das in der Ferne in Dunst und Grün verschwimmt. Zur Rechten entdecken sie weitläufige Holzterrassen, auf denen Menschen den Sommerabend genießen, plaudern, spielen und entspannen. Auf dem Wasser sind Boote unterwegs, an den Ufern suchen Schwäne nach Futter.

"Du bist …", beginnt Schwarzshirt, schmunzelt und verschließt ihren Mund mit einem unsichtbaren Schlüssel.

"Für dich bin ich heute sogar das Riesenrad, eine, wie hast du gesagt, sehr stille Attraktion." Strohhut spricht durch den Ausguck der U-Bahn hinaus in die Sonne. "Ich bin eine Attraktion, das stimmt, aber nur selten still, oder nicht? Dafür rotiere ich gerne, bin immer auf Achse, das passt haargenau. Aber das sind alles nur Worte und Momente und die Worte verfliegen und die Momente verfliegen und was bleibt ist etwas Anderes. Was bleibt, ist die Erinnerung, die Stille. Irgendwie abartig, aber es ist nun mal so. Insofern nehme ich dein Kompliment gerne an." Strohhut schaut Schwarzshirt an und lächelt. "Was sagst du jetzt? Überrascht?"

"Ich", beginnt Schwarzshirt und möchte richtigstellen, dass sie ihre Bemerkung gar nicht so wörtlich gemeint hat, sondern Strohhut nur einfach etwas Nettes sagen wollte, aber verkneift sich diese Erklärung und lächelt.
"Ich was?"
"Ich freu mich auf ein Bier mit dir. Dort unten. Komm, lass uns gehen. Du hattest wieder einmal genau den richtigen Riecher mit der Donauinsel. Heute ist unser Glückstag."
 

Interessante Links zur Geschichte

Historische Infos im Wien Geschichte Wiki:

Zeichnung: Sandra Biskup
Text: Simon Kovacic