Zeichnung: Mann im Lesesaal der Wienbibliothek

Meine Welt von gestern … und übermorgen

13.4.2021

Als ich jung war, da hat es noch keine Internetseiten gegeben. Zumindest nicht in meiner Welt. Ich bin kein Opa, der seinen Kindern von der guten alten Zeit erzählt. Ich bin aber so alt, dass ich meine ersten Arbeiten an der Universität gerade noch handgeschrieben abgegeben habe. Und als Studienanfänger habe ich gerade noch gelernt, wie ich in einer Bibliothek in Schubladenkästen, die mit tausenden Kärtchen gefüllt waren, nach Büchern suche.

Wie war das damals?

Wenn ich mich an diese Zeit Mitte der 1990er-Jahre erinnere, tue ich das nicht aus Nostalgie. Es ist nur alles seitdem ziemlich schnell gegangen, und manchmal meldet sich spontan die Frage, wie einfache Alltagsdinge funktioniert haben, bevor es das Internet und das Mobiltelefon gegeben hat. Ich habe als junger Student immer wieder die Wienbibliothek im Rathaus besucht. Wie habe ich herausgefunden, wann sie geöffnet ist? Ehrlich gesagt: Ich kann mich daran nicht erinnern. Ich weiß, dass ich dort war und in einem großformatigen Atlas über die Geschichte der Donauregulierung geblättert habe, aber wie ich die Öffnungszeiten in Erfahrung gebracht habe: keine Ahnung.

An eines erinnere ich mich: Ich habe mir Öffnungszeiten damals aufgeschrieben, in mein Notizbuch oder meinen Kalender, um sie bei der nächsten Gelegenheit parat zu haben. Ich erinnere mich auch, dass ich immer etwas zu schreiben dabeihatte. Und ein Buch, mein treuer Freund und Begleiter in meinen ersten Studienjahren, an dem ich mich festhalten, hinter dem ich mich verstecken und in das ich meine Nase stecken konnte, wann immer ich wollte. Damals bin ich mir in der U-Bahn mit meinem Buch manchmal als Außenseiter vorgekommen, heute weiß ich, dass ich mit meinem Bedürfnis, während der Fahrt in etwas hineinzuschauen, definitiv nicht allein bin.

Tintenkleckse, Tricotronic

Womit habe ich denn damals geschrieben? Ich schicke einen Suchauftrag an mein Gedächtnis und es liefert mir eine silberne, recht schwer in der Hand liegende Füllfeder in einem weinroten Lederetui. Und es spuckt noch mehr aus: Meine erste Füllfeder in der Volksschule und wie stolz ich auf sie war, und den Tintenkiller mit zwei Kappen, einer roten für den Löscher und einer blauen für den Drüberschreiber. Die Tintenkleckse auf meinen kleinen Händen, mein Federpennal. Meinen ersten Liebesbrief. Die Nachmittage im Hort. Das Fußballtraining. Die Jausenbrote. Knight Rider. Meinen ersten Taschenrechner. Mein erstes, eigenes Computerspiel, das der Osterhase gebracht hat: kein kleines Tricotronic, über das ich mich sehr gefreut hätte, kein aufklappbares Doppeldecker-Tricotronic, mit dem ich überglücklich herumgehüpft wäre, nein, sondern ein richtig großes Ding mit zwei grünen Hebeln, um das mich meine Geschwister beneidet haben, mit einem Bildschirm, auf dem Schildkröten durch ein Labyrinth gelaufen sind, und das dazu auch noch Musik gespielt hat!

Das Schild an der Tür

Ohne dass ich mein Gedächtnis mit einer neuen Suche beauftragt hätte, teilt es mir mit, dass die Wienbibliothek im Rathaus, als ich sie zum ersten Mal besucht habe, Wiener Stadt- und Landesbibliothek geheißen hat.

Den restlichen Weg zu den Öffnungszeiten muss ich allerdings rekonstruieren: Ich werde zu einer Tageszeit hingegangen sein, wo ich davon ausgehen konnte, dass sie geöffnet hat, an einem Vormittag unter der Woche zum Beispiel. Im Rathaus werde ich beim Informationsschalter nachgefragt haben, wie ich am besten in die Stadt- und Landesbibliothek komme und den Hinweisschildern durch das weitverzweigte Gebäude gefolgt sein. Das Rathaus war damals schon sehr groß. Es hatte wie heute zwei weit voneinander entfernte Flügel, viele verschiedene Innenhöfe und eine für einen unerfahrenen Neuling wie mich verwirrende Zahl an Stiegen, Liften, Türen und Gängen. Schließlich werde ich dann vor dem Eingang der Stadt- und Landesbibliothek gestanden sein und die Öffnungszeiten vom Schild an der Tür abgelesen haben. Dann waren Füllfeder und Notizbuch am Zug, diese Information für künftige Besuche zu speichern. Voilá.

Ein neues Sinnesorgan

Da fällt mir ein: Ich hätte in der Wienbibliothek auch anrufen können, ein Telefon hätte es gegeben, aber das wäre mir damals sehr unangenehm gewesen. Und: Öffnungszeiten sind mir damals nicht so wichtig gewesen wie heute, ich hatte sehr viel mehr Zeit. Und eines noch: Öffnungszeiten schaue ich heute so oft nach, weil sie im Smartphone so einfach zur Verfügung stehen. Es fühlt sich schon komisch an, wenn ich eine Strecke, die ich schon hunderte Male mit dem Auto gefahren bin, ohne Navi fahre. Das Smartphone gehört schon so gut wie fix zu mir, wie ein neues Sinnesorgan.

Heute gehe ich in der Wienbibliothek rund um die Uhr ein und aus. Vor der Arbeit tauche ich im Smartphone in die Handschriften von Johann Nestroy oder Franz Schubert. Beim Abendessen höre ich dem anarchistischen Wiener Rocker Stefan Weber zu, wie er aus seinem Leben erzählt. Am Nachmittag verfolge ich die Route der Straßenbahn auf einem barocken Stadtplan, vor dem Schlafengehen schaue ich mir Ausstellungsführungen, Diskussionen oder Buchpräsentationen an.

Die gechippten Enkel

Ich freue mich schon auf die ungläubigen Gesichter meiner potenziellen Enkel, wenn ich ihnen erzähle, dass es in meiner Kindheit nur Schwarz-Weiß-Fernsehen und in meiner Jugend noch kein Internet und kein Mobiltelefon gegeben hat. Und auf das Rattern in ihren Hirnen bei dem Versuch, sich so etwas Unvorstellbares vorzustellen. Ich wiederum konnte mir früher nicht vorstellen, was heute Alltag ist, und kann mir heute kaum vorstellen, in welche Richtung die Reise geht, solange ich noch lebe.

Ich versuche es einmal: Die Wienbibliothek wird, wenn ich sehr alt bin, immer noch im ersten Stock des Rathauses liegen, da bin ich ziemlich sicher, und die Öffnungszeiten werden nicht viel anders sein. Vielleicht geistere ich dann aber schon mit einer Virtual-Reality-Brille und Bewegungssensoren am Körper in einem Archiv der Bibliothek herum, das es heute noch gar nicht gibt. Oder ich trage bereits Implantate in mir, mit denen ich durch virtuelle Welten fliegen kann. Dass ein Computer meine Gedanken in Text und bewegte, dreidimensionale Bilder übersetzt, werde ich wohl leider nicht mehr erleben. Bei meinen Enkeln bin ich mir da nicht so sicher.

Sicher ist allerdings, dass wir weiter denken, fühlen, träumen und uns erinnern werden. Dass wir uns begegnen und dass wir unsere Spuren aufbewahren werden. In welcher Form oder welchem Medium auch immer.

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