Es war Montag, der 2. November 2020, am frühen Nachmittag. Erwin, ein gebürtiger Wiener und leidenschaftlicher Kellner, dem die Pandemie die Arbeit geraubt hatte, saß in seiner kleinen Währinger Wohnung und fädelte Klopapierrollen auf eine alte Wäscheleine, und zwar in den Farben Weiß, Rosa und Gelb. Drei große Packungen gingen dabei drauf, bei seinem knappen Budget keine Selbstverständlichkeit. Aber an der Veranstaltung, zu der Margerita übers Internet eingeladen hatte, musste er einfach teilnehmen. Einmal, weil Margerita ein ganz besonderer Mensch war. Und dann noch, weil diese Veranstaltung für ihn, der sich daheim schon grausam einsam fühlte, genau das Richtige zu sein schien: "Verkleidet euch, kommt in den Türkenschanzpark und genießen wir am Abend, bevor es mit dem Zusammensein wieder schwierig wird, noch einmal die Gemeinschaft."
Erwin nahm einen Schluck aus der Bierdose, schon seine dritte oder vierte heute, und knüpfte die Wäscheleine an eine Gürtelschlaufe seiner Hose. Er betrachtete sein Werk skeptisch. "Ich hoff, die Leut erinnern sich noch daran, dass im März die Klopapier-Regale leer waren. Wenn nicht, werd ich mich ganz schön blamieren. Und wenn schon. Is a scho wurscht."
Vera hatte das Posting von Margerita am Samstagabend gelesen. Von da an arbeitete sie übers Wochenende von einem Feuereifer angetrieben an einem großen Kopfschmuck in Form eines Coronavirus. Bis tief in die Nacht hinein modellierte sie auf ihrem Küchentisch an einem mächtigen Berg Plastilin. Das Formen, Bemalen und Modellieren machte ihr Spaß und es lenkte sie von den Sorgen ab, die sie sich um ihre Eltern machte. Zur Krönung befestigte sie an der Innenseite Lämpchen, die durch Schlitze und Löcher leuchteten. Sie war sehr zufrieden mit ihrem Kunstwerk.
Zwei Stunden vor Beginn des Umzugs um 17 Uhr setzte sich Vera mit einem Glas Rotwein an den Küchentisch. Kaum saß sie still, eilten ihre Gedanken wieder zu ihren Eltern, die in Oberösterreich gemeinsam in einem Pflegeheim lebten. Um ihre Mutter, da machte sie sich keine Sorgen, aber ihr Vater, der … bei ihrem Vater musste sie von einem Tag auf den anderen damit rechnen, dass er nicht mehr da war. Da konnte sie so viele Corona-Kunstwerke schaffen, wie sie wollte. Vera stiegen Tränen in die Augen, sie fasste sich, nahm einen Schluck Rotwein und schaute aus dem Fenster. "Es wird mir guttun, unter Menschen zu kommen", dachte sie, "es ist doch alles ein bisschen viel zurzeit."
Djamal war Chirurg und vor dem Krieg in Syrien geflohen. Mittlerweile hatte er in Wien in der Nähe des Schubertparks in Währing eine neue Heimat gefunden. Was es für ein Glück bedeutete, in Sicherheit auf dem Sofa im Wohnzimmer zu sitzen wie an diesem Montagnachmittag, war Menschen, die weder Krieg noch Flucht erlebt hatten, schwer zu vermitteln. Auch seine Frau und seine Kinder waren in Sicherheit. Er hatte allen Grund, dankbar zu sein. Die Veranstaltung, zu der Margerita, die er persönlich nicht kannte, einlud, schien ihm eine gute Gelegenheit, diese Dankbarkeit zu teilen. Und die Kinder gingen sehr gerne in den Türkenschanzpark, wegen des vielen Wassers und der Enten.
"Wir wollten uns etwas für den Umzug im Türkenschanzpark überlegen", rief er Alex und Larissa zu, als sie an ihm vorüberrauschten. "Was wollen wir denn dort tun? Hallo! Kommt mal her! Fällt euch was ein?" Alex, der Ältere der beiden, blieb stehen, überlegte kurz und rief dann, aufgeregt auf der Stelle hüpfend: "Ein Lied, ein Lied, ein Lied!" "Ein Lied", sagte Djamal anerkennend, "eine sehr gute Idee, Alex, eine sehr gute Idee." "Und du?", fragte Djamal die kleinere Schwester, die die Frage mit großen Augen angehört hatte, aber keine Anstalten machte, zu antworten. "Weiß nicht", sagte Larissa, lief ins Kinderzimmer und schlug dort auf ihre bunte Kindertrommel. Alex setzte sich neben sie ans E-Piano, nahm bei seinem Spiel den Rhythmus von Larissa auf und begann zu singen. "Corooona, Corooona, spring in die Dooona. Corooona, Corooona, spring in die Dooona!" Djamal stand in der Tür des Kinderzimmers und schüttelte verblüfft den Kopf. "Was für ein tolles Lied", sagte er und klatschte in die Hände.
Simon, ein britischer Künstler, der in seinen Wiener Jahren von der Mode abgerückt und in Richtung Performance gegangen war, fand das Jahr 2020 nur mehr zum Lachen. Kaum hatte sich die nationale Farce rund um den Brexit beruhigt, hatte sich der Vorhang eines globalen Schauspiels mit dem Titel "Corona" gehoben. Auch in diesem Drama sorgte der Eigensinn der britischen Regierung für Verwunderung, wenn nicht Kopfschütteln und Ablehnung. Österreich lieferte mit Ischgl einen international beachteten Beitrag. Und auch das Gerangel um die Einfärbung der Corona-Ampel, die Vermischung von Politik und Gesundheit, gab tiefe Einblicke in den Zustand der Gesellschaft. Eine aufregende Zeit für die Kunst.
War es eine Tragödie, war es eine Komödie? Je länger die Pandemie andauerte, desto weniger gab es auf diese Frage eine klare Antwort. Simon war sich bis zuletzt nicht sicher, wem er glauben und wem er besser misstrauen sollte. Jetzt, Anfang November, schien Wirklichkeit zu werden, wovon im Frühjahr immer nur geredet wurde: die Überlastung des Gesundheitssystems, zu wenige Intensivbetten, zu wenig Personal. Ein neuer unheilvoller Begriff tauchte auf: Triage. Was war den Sommer über geschehen? Simon machte sich erstmals Sorgen um sich selbst, dass es auch ihn erwischen konnte. Er war schwerer Raucher, hatte das Leben immer in vollen Zügen genossen und unzählige Male über die Stränge geschlagen. Würde er einem schweren Verlauf standhalten? Und was, wenn tatsächlich kein Intensivbett für ihn frei sein würde, sollte er eines brauchen? Er sah sich, eine Sauerstoffmaske über dem Gesicht, regungslos und von der Maschine am Leben gehalten, in einem Spitalszimmer liegen. Sein satirischer Geist war ausgeflogen, saß betrübt und um seinen Wirt besorgt draußen vor dem Fenster und machte keinen Pieps.
Simon erinnerte sich an das Posting einer gewissen Margerita, das ihm heute Morgen aufgefallen war. Ein Umzug mit Verkleidung sollte das werden. "Ich gehe dorthin als Tod, mit schwarzem Umhang und Sense. Das wird fantastisch. Makaber. Und ehrlich. Ich werde improvisieren. Als Sense nehme ich meinen Besen."
Zsuzsanna pendelte als Pflegerin seit vielen Jahren zwischen ihrem Heimatland Ungarn und Österreich. Sie machte diese Arbeit gern und war auch mit der Verantwortung und der Belastung bisher sehr gut zurechtgekommen. In diesem besonderen Jahr allerdings spürte sie, dass die Anforderungen sie überforderten und über ihre Grenzen gingen. Die Einreisebeschränkungen, die Coronatests, das Hin und Her der häufig wechselnden Vorschriften und Meinungen von Fachleuten sowie das Maskentragen zermürbten sie. Am schwersten wog allerdings die ständige Sorge, bei aller hygienischen Gründlichkeit doch für eine schwere Erkrankung oder gar den Tod des ihr anvertrauten Menschen verantwortlich zu sein. Das durfte nicht passieren. Und wenn es doch passierte und ihr würde ein Fehler nachgewiesen, was würde das für ihre Zukunft bedeuten? Würde sie ihren Beruf weiter ausüben dürfen?
Frau Hazanovic, die sie seit einigen Monaten pflegte, war am späten Nachmittag beim Fernsehen eingeschlafen. Zsuzsanna war bei ihr gesessen und hatte sich so in den Bildern, Stimmen und Gesichtern verloren, dass sie ganz darauf vergessen hatte, mit ihr zu besprechen, dass sie heute noch spazieren gehen wollte. Einer jener beunruhigenden Aussetzer. Der Tag war so wunderbar mild, vielleicht war es der letzte wirklich warme Tag in diesem Jahr.
Jetzt stand Zsuzsanna am Bügelbrett, blickte aus dem Fenster und sah, dass das Sonnenlicht sich bereits langsam abendlich einfärbte. Wenn sie noch hinauswollte, dann musste sie das sofort tun, auf der Stelle. Sie steckte das Bügeleisen aus, schrieb eine Nachricht, ging auf leisen Sohlen durch das Wohnzimmer und legte sie so auf den Beistelltisch, dass Frau Hazanovic sie beim Aufwachen sehen musste. Zsuzsanna zog sich an und lief eilig die Stiegen hinunter ins Freie. Sie schlug den Weg zum nahe gelegenen Türkenschanzpark ein. Dort wollte sie zu den großen Platanen gehen, unter deren mächtigen Kronen sie auflebte, ja, richtig leicht und fröhlich wurde.
Als Zsuzsanna den Türkenschanzpark betrat, wurde sie von einer jungen Frau begrüßt, die eine lange Lichterkette mit kleinen weißen Lampions um den Hals trug. In der Hand hielt sie eine Tafel, auf der in bunten Lettern "Margeritas Umzug" zu lesen war. "Kommen Sie zum Umzug?", fragte die junge Frau Zsuzsanna mit strahlenden Augen. "Nein", antwortete Zsuzsanna und wandte sich interessiert der Tafel zu. "Margerita, das sind Sie?" "Ja genau, ich bin die Margerita." "Und was ist das, ein Umzug?" "Ein gemeinsamer Spaziergang mit vielen Menschen. Bald werden hier hoffentlich einige Leute in Masken und Verkleidungen auftauchen. Und dann werden wir gemeinsam durch den Park spazieren." Margerita grinste breit, Zsuzsanna nickte wohlwollend und lächelte. "Dann wünsche ich viel Freude", sagte sie und wandte sich zum Gehen.
"Machen Sie doch mit", sagte Margerita, "kommen Sie! Wir wollen heute gemeinsam ein Zeichen setzen, für Lebensfreude und Gemeinschaft in dieser schwierigen Zeit." Zsuzsanna blieb stehen, drehte sich zu Margerita um, schaute dann in die Tiefe des Parks hinein, wo hinter dem Hügel die Stelle mit den großen Platanen lag, wandte sich wieder Margerita zu und sagte: "Sie sind sehr freundlich. Und heute ist ein ganz besonderer Abend. Ich werde mit Ihnen gehen." Margerita machte einen Luftsprung und warf Zsuzsanna einen Kussmund zu. "Sie sind die Erste und Sie sind ein Schatz."
Da kam Erwin um die Ecke, blieb stehen, sah sich nach der Leine mit Klopapierrollen um, die er an seinem Hosenbund hinter sich herzog, und ging dann vergnügt weiter. "Hallo!", grüßte ihn Margerita, "Erwin! Toll, dass du gekommen bist!" Erwin nahm einen Schluck aus seiner Bierdose und grüßte, indem er sich vor den beiden Frauen tief verneigte. "Margerita ruft und ich bin zur Stelle. Übrigens: Wenn wer aufs Häusl muss, wie wir auf gut Wienerisch sagen, Klopapier habe ich genug dabei." Erwin drehte sich um, hob die Leine hoch und präsentierte sie mit einem kecken Gesichtsausdruck. "Ich habe für uns noch welche ergattert." - "Die Idee finde ich super. Allein deswegen hat es sich schon gelohnt, das Ganze zu veranstalten." Erwin blickte sich um. "Aber viele sind wir noch nicht." Zsuzsanna blickte Margerita an, die entspannt die Achseln zuckte. "Des wird scho, des wird scho, wie der Wiener sagt." - "Schau ma mol", sagte Zsuzsanna in einer wunderbar komischen Mischung aus Wienerisch und Ungarisch und guckte Erwin und Margerita schelmisch an.
Da tauchte Simon auf, eingehüllt in eine große, schwarze Decke und mit einem Besen in der Hand, an den er mit Klebeband Buttermesser und Gabeln fixiert hatte. Ihm folgte eine Gruppe junger Leute, die gegenseitig ihre mit selbstgebastelten Corona-Kugeln geschmückten Zipfelmützen begutachteten und drehten. "Hallo! Willkommen!", rief ihnen Margerita zu, "da seid ihr richtig!" Simon streckte Erwin, Zsuzsanna und Margerita sein schwarz geschminktes Gesicht entgegen, riss seine Augen auf und sagte mit tiefer, gruseliger Stimme: "Ich hole euch, ich hole euch. Corona geht um, mein liebster bester Freund. Ich kriege euch alle." - "Schleich di", sagte Erwin und deutete einen Fußtritt auf Simons Hinterteil an, der die Einlage annahm, sich Erwin zuwandte und ihn anknurrte. "Auch du bist willkommen, Sensenmann", sagte Margerita majestätisch und reichte ihm im Spiel die Hand. Simon holte aus dem Inneren seines Umhangs eine gelbe Pappschachtel hervor, auf der "Corona" geschrieben stand. "Eine Prise von meinem Lieblingspulver gefällig?" "Hinweg mit dir!", befahl Margerita und verwies ihn mit ausgestrecktem Arm in die Ferne. "Na sag ich ja", witzelte Erwin, "husch husch, hau die überd Häuser."
Weitere Neuankömmlinge traten durch das Eingangstor des Türkenschanzparks, mit blinkenden Teufelshörnern, genoppten Massagebällen, einem stacheligen Kugelfisch und vielen weiteren Accessoires geschmückt, die in fantasievoller Weise auf die Pandemie Bezug nahmen. Larissa und Alex erschienen, sangen ihr "Corooona, Corooona, spring in die Dooona" und trommelten dazu. Sie blieben bei Erwin stehen und betrachteten gleichermaßen interessiert wie irritiert die an seiner Hose befestigte Leine. Djamal und seine Frau, Alia, ihre Gesichter umrahmt von flauschigen, weißen Weihnachtsbärten, stellten sich zu ihnen und erfragten bei Erwin, wie seine Verkleidung zu verstehen war. Margerita ging auf sie zu. "Freut mich, dass ihr da seid und sogar eure Kinder mitgebracht habt. Das Lied ist ja ein Hit!" Alia und Djamal streckten Margerita den Ellbogen entgegen. "Vielen Dank für die tolle Idee. Das Lied haben sich Alex und Larissa selbst ausgedacht!" "Da gehört ein Wienerlied draus gemacht", bemerkte Erwin. Zsuzsanna blickte die beiden Kinder mit einem warmen Ausdruck an.
Der Platz hinter dem Eingangstor wurde langsam eng, die Menschen traten auseinander und begannen, sich am Rand der Wege, die in das Innere des Parks führten, aufzureihen. Es war bereits dunkel geworden. Die Lichter der Verkleidungen traten hervor, Gespräche erfüllten die Luft, weitere Kinder umkreisten die verstreute Versammlung, schlüpften an den Erwachsenen vorbei oder zogen ungeduldig an ihren Ärmeln.
Ein Raunen, Gelächter und Händeklatschen gingen durch die Menge, als Vera mit ihrem prächtigen, leuchtenden Pappmaschee-Coronavirus auf dem Kopf um die Ecke bog. Margerita klatschte begeistert in die Hände und johlte. "Die Corona-Königin ist eingetroffen. Was für eine Ehre!" Vera hob die Arme und drehte sich im Kreis, um sich von allen Seiten betrachten zu lassen. Simon stellte sich neben sie und schwenkte seine Sense drohend über den Köpfen. Er erntete dafür Buhrufe, Pfiffe, Lacher und vereinzelten Applaus.
Margerita trat in die Mitte der Versammlung, formte einen Trichter um den Mund und rief: "Noch einmal herzlich willkommen! Mein Name ist Margerita. Ich bin überglücklich, dass ihr alle gekommen seid! Meine Botschaft ist offensichtlich angekommen. Wir wollen also heute noch einmal so richtig die Gemeinschaft genießen, Spaß haben und ausgelassen sein. Wir sind nicht allein, auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Wir sind viele und stehen diese Zeit gemeinsam durch. Also los, gehen wir zusammen und genießen wir gemeinsam diesen wunderschönen warmen Novemberabend! Und haltet bitte Abstand!"
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. "Wohin?", ließen sich Stimmen vernehmen. "Zu den großen Platanen!", rief Zsuzsanna und kicherte, überrascht über ihren Übermut. Margerita schaute sie mit lachenden Augen an. "Spürst du's?", fragte Margerita leise. "Ja, ich spüre es", sagte Zsuzsanna, "ich spüre es."
Standort Türkenschanzpark - wien.at-Stadtplan