Zeichnung: Straßenszene in der Begegnungszone Lange Gasse

Rendezvous in der Begegnungszone

4.3.2020

Marko aus Belgrad, ein großer, stattlicher Mann von 45 Jahren und alleinstehend, besuchte einen Kongress in Wien. Es war Frühling, warm und sonnig. Wichtiger als der Kongress war für Marko, wieder einmal mehrere Tage am Stück in Wien zu verbringen, der Stadt seiner Kindheit und Jugend. Seine Eltern hatten damals hier in der Wissenschaft gearbeitet und als sie von seiner Reise erfuhren, da luden sie ihn zu sich ein und überhäuften ihn mit Orten und Menschen, die er unbedingt besuchen müsste. Schon Tage vor dem Abflug versuchte sich Marko vorzustellen, wie sich Wien wohl verändert haben mochte. Dabei wurde ihm aber auch klar, dass es ihm vor allem ein Herzensanliegen war, das Grätzel in der Josefstadt zu besuchen, in dem er aufgewachsen war.

Reise in die Kindheit

Sobald er also seine beruflichen Pflichten erledigt hatte, machte sich Marko auf den Weg dorthin. Aufgeregt spazierte er die Josefstädter Straße hinauf, die den kleinen, bürgerlichen Bezirk von Osten nach Westen durchzieht, und ihm ging das Herz dabei auf, als er an all den Auslagen und Häusern vorbeispazierte, an denen er schon als kleiner Bub vorbeispaziert war. Sogar die Straßenbahn schien extra für ihn mit ihrer schrillen Glocke zu bimmeln.

Als er dann in die Lange Gasse einbog, in der er mit seinen Eltern früher gelebt hatte, standen da immer noch die niedrigen Barockhäuser mit ihren runden Toren und das Restaurant am Eck hatte zwar einen neuen Anstrich bekommen, aber nichts von seiner Gemütlichkeit eingebüßt. Dass einen stumme alte Häuser so rühren konnten. Irgendwie kam ihm alles hoch, was er damals und bis heute erlebt hatte, ein großes, starkes Gefühl, das ihm die Tränen in die Augen trieb.

Neues Pflaster

Als sich das Gefühl dann etwas gelegt und sein Atem wieder beruhigt hatte, sah er sich etwas genauer um und bemerkte, dass sich die Lange Gasse in der Zwischenzeit doch sehr verändert hatte.

Pflastersteine statt Asphalt, viel weniger Autos, Pflanzen. Ein kleines Café mit bunten Tischen und Stühlen direkt auf dem Gehsteig. Die ganze Gasse war von einer Seite zur anderen auf einer Ebene gepflastert, war also mehr ein Platz als eine Straße oder irgendetwas dazwischen. Irgendwie war es jetzt viel ruhiger hier, ein bisschen wie in einer Dorfgasse. Erstaunlich. Eigentlich wäre Marko sehr damit einverstanden gewesen, wenn er alles so vorgefunden hätte, wie es vor 25 Jahren war, aber er fand, dass die Veränderungen der Gasse gutgetan und sie sogar noch schöner gemacht hatten.

Das Mädchen im Café

Da stand das Haus, in dem er früher täglich ein und aus gegangen war. Die Tür war unverändert. Hier hatte er als Schulbub, bevor er in die Wohnung hinaufging, noch rasch die Brausetabletten gelutscht, die er noch übrighatte.

Und an derselben Tür war er gestanden wie ein geschlagener Hund, nachdem er das erste Mal mit einem Mädchen ausgegangen war, mit Julia, seiner großen Liebe, ins Café Strozzi gleich ums Eck. Denn anders als erwartet teilte ihm Julia dabei mit, dass er zu groß für sie sei und ihn nicht mehr treffen wolle. Und anstatt ihr seine Meinung zu sagen, war er still dagesessen, hatte sich geschämt und ihr dann auch noch den Apfelsaft bezahlt. Er hätte Julia niemals treffen sollen, denn irgendwie war er seitdem, was Frauen betraf, fast schon traumatisiert. Oder redete er sich das nur ein?

Der alte Nachbar

Marko suchte die Gegensprechanlage nach dem Namen "Wranek" ab. Er drückte die Klingel. Eine Männerstimme meldete sich.

"Ich bin's, der Marko. Bist du's, Stefan? "
"Marko? Der Marko?!"

Die beiden Kinderfreunde fielen sich in die Arme, packten sich an den Schultern, spöttelten über ihr Äußeres und gingen Arm in Arm aus dem Vorzimmer weiter ins Wohnzimmer. Es gab viel zu erzählen. Und die Zeit war knapp, denn Stefan hatte am Abend etwas vor. Als Stefan Marko schließlich durch die Wohnung führte, warfen sie auch einen Blick in das ehemalige Spielzimmer, in dem sie beide so viele schöne Stunden verbracht hatten. Jetzt war es das Reich von Stefans Tochter Lilly.

Wie es denn bei Marko mit Kindern aussähe? Dazu bräuchte es zuerst einmal eine Frau.
"Hast du dich noch immer nicht von der Julia erholt?", witzelte Stefan.
"Willst du mich loswerden?", konterte Marko, "reden wir lieber über etwas Anderes."

Zone weckt Hoffnung

Stefan tat ihm den Gefallen und wechselte das Thema. "Was hältst du eigentlich von der neuen Begegnungszone?"
"Von was?"
"Von der neuen Begegnungszone, der Umgestaltung der Langen Gasse."
"Aah … ja ja, finde ich gut, sehr gut."
"Du glaubst nicht, wie viel Überzeugungsarbeit es gebraucht hat, um dieses Projekt durchzubringen. Die Leute haben sich Sorgen gemacht, dass sie mit dem Auto nicht mehr zu ihren Häusern kommen und dass sie keinen Parkplatz finden werden."
Marko öffnete das Fenster.
"Bei der BürgerInnenbefragung haben dann 56 Prozent für die Begegnungszone gestimmt." Stefan strahlte.
"Die Umgestaltung ist wirklich gelungen", sagte Marko, der das Geschehen in der Gasse beobachtete. "Wer weiß, vielleicht begegne ich in dieser Begegnungszone noch einmal der Frau meines Lebens? Könnte ja sein …"

Ein Glas Apfelsaft

"Weißt du was?", sagte Stefan, "ich treffe heute Abend dort unten beim Griechen meine Freundin Sarah. Du kommst einfach mit und ich stelle euch vor. Ich habe das Gefühl, ihr könntet euch mögen."
"Heute Abend? Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint."
"Komm schon, das wird sicher lustig."
"Für dich vielleicht. Nein, nein. Heute habe ich keine Lust, heute möchte ich ganz in der Vergangenheit schwelgen."

"Marko! Du bist hier und jetzt in der Be-ge-gnungs-zo-ne! Hier gehen sogar Leute, die Autos lieben, respektvoll mit Leuten um, die Fahrräder lieben. Und umgekehrt! In der Begegnungszone sind Dinge möglich, von denen du anderswo nur träumen kannst! Also lass dir diese Chance nicht entgehen!"
Marko lachte. "Du bist noch ganz der Alte, Stefan. Lass dich umarmen. Ich bin dabei!"

Marko und Stefan nahmen fünf Minuten vor 19 Uhr im Restaurant Trilogie Platz und bestellten schon einmal etwas zu trinken. Zehn Minuten später betrat Sarah das Lokal und es dauerte nicht lange, da hatte Marko das Gefühl, dass er dieser Frau unheimlich gerne ein Glas Apfelsaft bezahlen würde.

 

Interessante Links zur Geschichte

Standort der Begegnungszone Lange Gasse – wien.at-Stadtplan

Stadt Belgrad (Englisch)

Meeting Destination Vienna – WienTourismus

Historische Infos im Wien Geschichte Wiki:

Zeichnung: Sandra Biskup
Text: Simon Kovacic